Solidarität
Warum ist Solidarität im Betrieb wichtig?
„Mir geht es doch gut an meiner Arbeitsstelle. Was die anderen machen, ist mir egal.“ Solche oder ähnliche Aussagen sind den meisten gut bekannt. Und auch wenn es oft nicht gesagt wird – gedacht wird es doch immer häufiger. Solidarität – ein Wert des Zusammenhalts und des gegenseitigen Einsatzes füreinander – schwindet in der Praxis immer mehr zugunsten der Maxime: Wenn jede*r an sich denkt, ist an alle gedacht.
Woher kommen solche Tendenzen heutzutage?
Unsere Gesellschaft und unser Arbeitsleben sind geprägt von Individualisierung, Differenzierung und Entsolidarisierung. Die Leistungsgesellschaft – so wird es propagiert – stellt immer mehr den/die Einzelne*n in den Fokus. Jede*r ist ja selbst dafür verantwortlich, dass es ihm/ihr gut geht. Schon in der Schule wird uns deutlich gemacht, dass es die Schuld des/der Einzelnen ist, wenn Leistungen nicht erbracht werden (können) oder das individuelle Wohlergehen leidet.
Mensch wird zur/zum Einzelkämpfer*in ausgebildet. Und dies setzt sich im Berufsleben fort. Unterstützt wird diese Konzentration auf sich und den eigenen (Teil-)Bereich dadurch, dass Arbeitsprozesse differenzierter, das heißt kleinteiliger werden. Dies lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: War es noch vor einiger Zeit die Aufgabe einer Pflegekraft, dem/ der Patient*in sowohl das Essen anzureichen, als auch bei der Körperpflege zu unterstützen, Blutdruck zu messen, zum Röntgen zu begleiten und den Beistelltisch zu reinigen, werden diese Aufgaben heute mehr und mehr von vielen unterschiedlichen Arbeitskräften übernommen. Für jede einzelne Teilaufgabe, gibt es unterschiedliches Personal. Das kann gut sein, denn die Pflegekraft wird entlastet. Es entfremdet aber auch von dem Gesamtprozess und kann dazu führen, das große Ganze aus dem Blick zu verlieren. Die Pflegehelfer*in verantwortet das Blutdruckmessen, die Pflegekraft die Konsequenzen, die der Wert des Blutdrucks mit sich bringt, das Personal des Transportdienstes verantwortet die Begleitung zum Röntgen und die Reinigungskraft die Sauberkeit des Beistelltisches. Vielleicht wurden sogar Bereiche wie der Reinigungsdienst oder der Transportdienst bereits „outgesourct“ – das heißt an Subunternehmen abgegeben – und die entsprechenden Mitarbeiter*innen gehören einer anderen Firma an, weil diese Vorgehensweise für das eigene Unternehmen preisgünstiger ist.
Alle Arbeitnehmer*innen arbeiten also an einem Gesamtprozess – der Versorgung einer/ eines Patient*in. Passiert ein Fehler in diesem Prozess, sind Auswirkungen für alle direkt zu spüren. Der Umgang mit solchen Fehlern ist jedoch oftmals, dass die Kolleg*innen nicht vom/von der Chef*in, sondern aus den Reihen der Beschäftigten sanktioniert werden. Herkunft oder Sprache, Qualifikation, erlernter Beruf, Vorerfahrung, Firmenzugehörigkeit, Alter – all das sind heutzutage Vorwürfe, die dann zum Tragen kommen.
Die Probleme, die dahinterstecken – also z. B. fehlende Zeitressourcen, mangelnde Qualifikationsangebote, fehlendes Personal – werden zunächst nicht gesehen. Es scheint einfacher, den eigenen Kolleg*innen Vorwürfe zu machen, als die Vorwürfe an den/die Arbeitgeber*in zu richten. Differenzierung bedeutet also auch Entfremdung.
Differenzierung und Arbeitsteilung können durchaus gut sein, wenn die am Gesamtprozess mitwirkenden Menschen sich trotz allem als Team begreifen. Am vorangegangenen Beispiel wird erkenntlich, dass Solidarität unter den gemeinsam agierenden Berufsgruppen inner- und überbetrieblich funktionieren muss, um ein gutes Gesamtergebnis zu erreichen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Beschäftigten ein Gefühl für den gesamten Prozess/das Produkt entwickeln und nicht nur für ihren eigenen Teilprozess. Individualisierung und Differenzierung als gesellschaftliche – und betriebliche – Prozesse führen (oftmals begleitet von Druck oder Einschüchterung seitens des/der Arbeitgeber*in) unter anderem dazu, dass eine Entsolidarisierung stattfindet. Jede*r konzentriert sich auf sich selbst und kämpft alleine dafür, dass es dem eigenen Selbst gut geht. Aber erreichen wir das größtmögliche Wohlergehen für uns selbst wirklich durch Entsolidarisierung?
Ohne den Blick auf unsere Kolleg*innen? Ein Blick auf die individuelle Arbeitssituation zeigt in vielen Fällen, dass Überstunden mehr werden, der Leistungsdruck größer, die Arbeitszeit länger, Ruhepausen geringer, die Bezahlung erhöht sich nur geringfügig. Personalgespräche, in denen es um die Optimierung der Arbeit geht, Abmahnungen und Kündigungen – all das ist keine Seltenheit mehr. Wie sehen hier individuelle Lösungen aus? Keine Überstunden mehr machen, sich dem Leistungsdruck als einzige*r eben nicht mehr beugen – möglich. Aber verändern würde sich das System nicht. Nur der Druck auf diese Einzelperson würde steigen.
Doch warum ist das so?
Im Arbeitsleben stehen sich zwei grundsätzliche Interessen gegenüber: Arbeitgeber*innen repräsentieren dabei meist die Seite des Kapitals. Die Interessen sind hier eine Profitmaximierung, einhergehend mit einem geringen Lohn für Beschäftigte, möglichst viel Arbeitsleistung in wenig Zeit oder wenig Urlaub für die Beschäftigten. Arbeitnehmer*innen stehen für die Seite der Arbeit. Die Interessen, die aus dem Verkauf der eigenen Arbeitskraft entstehen, sind ein möglichst hoher Lohn, möglichst geringe Arbeitszeiten oder viel Erholungszeit.
Dass sich diese zwei Seiten widersprechen und es oft knallt, ist dabei vorprogrammiert. Zunächst einmal ist das Kräfteverhältnis zwischen diesen zwei unterschiedlichen Seiten ziemlich eindeutig: Der/Die einzelne Arbeitnehmer*in sitzt am kürzeren Hebel. Das wird anhand des Beispiels mit den Überstunden ersichtlich: als einzelne*r Arbeitnehmer*in »Nein« zu sagen, ist schwierig. Doch was würde passieren, wenn keine*r mehr Überstunden machen würde? Das Kräfteverhältnis würde sich verändern. Nur schwerlich könnte der/die Arbeitgeber*in nun alle sanktionieren. Die Folge wäre wahrscheinlich eher, dass die Kapitalseite dennoch interessiert daran ist, dass die Arbeit erledigt wird. Sie muss folglich Personal einstellen, um diese Mehrarbeit abzudecken.
In diesem Beispiel wäre die Lösung, die durch ein solidarisches Miteinander erreicht wurde, besser für jede*n Einzelne*n. Besser als jede Einzellösung, die hätte gefunden werden können. Dieses Beispiel ist jedoch nur eines von vielen. Herausforderungen wie die Entgrenzung von Arbeitszeit, Digitalisierung und deren Einfluss auf unser Arbeiten werden – auch für den/die Einzelne*n – nicht zufriedenstellend gelöst werden können, wenn jede*r sie für sich selbst lösen möchte. Es klingt nach den ganz großen Problemen, die ja so weit weg von jeder Einzelperson sind. Doch ist das wirklich so?
Viele Beschäftigte sind konfrontiert damit, dass mehr Technik und digitale Tools eingesetzt werden, die Arbeitsmenge jedoch nicht absondern auch noch zunimmt. Viele Arbeitnehmer*innen kennen die Situation, Überstunden machen zu müssen. Viele Arbeitnehmer*innen erinnern sich daran, dass die letzte Gehaltserhöhung höher hätte ausfallen können, ja teilweise sogar müssen, um sich und die Familie gut zu versorgen. Die Entwicklungen tendieren in Richtung mehr Arbeit, weniger Lohn für Beschäftigte, weniger Freizeit für Beschäftigte. Diesen Entwicklungen kann nur entgegengetreten werden, wenn sich Arbeitnehmer*innen im Betrieb und überbetrieblich zusammenschließen. Nicht unter Kolleg*innen gegeneinander kämpfen, sondern gemeinsam gegen diese Entwicklungen kämpfen. Wenn wir weiter und zunehmend gegen unsere Kolleg*innen kämpfen, schwächen wir uns am Ende selbst. Das Wir-Gefühl darf nicht bei uns selbst aufhören, sondern muss darüber hinaus auf unsere Kolleg*innen im Betrieb und auch Kolleg*innen aus anderen Betrieben und Branchen ausgeweitet werden, um den bestmöglichen Effekt für jede*n einzelne*n Arbeitnehmer*in zu erreichen.
Und wie kann das in den Betrieben umgesetzt werden?
In kleinen Betrieben ist es wichtig, Räume für Austausch, Begegnung und Gespräche zu schaffen. Ein Interesse an dem/der Anderen ist hierbei fundamental. Ziel dieses Austausches sollte es sein, gemeinsame Strategien zu entwickeln, wie mit betrieblichen Problemen umgegangen werden kann. Eine Unterstützung durch die Gewerkschaft ist dabei stets sinnvoll. In größeren Betrieben gibt es das Recht, Betriebs- oder Personalrätebzw. Jugend- und Auszubildendenvertretungen zu wählen. Diese haben einen gesetzlichen Anspruch darauf, sich rechtlich, organisatorisch und persönlich schulen zu lassen, um die Interessen der Beschäftigten adäquat vertreten zu können. Diese Interessenvertretungen sind Ansprechpartner*innen im Betrieb und angewiesen auf den ständigen Austausch mit den Beschäftigten.
Betriebs- und Personalräte, bzw. Jugend- und Auszubildendenvertreter*innen sind an dieser Stelle jedoch noch mehr als reine Ansprechpartner*innen. Sie haben bei vielen Themen das Instrument der Mitbestimmung an der Hand. Das bedeutet, dass ohne ihre Zustimmung, eine Maßnahme des/der Arbeitgeber*in, die sich negativ auf die Beschäftigten auswirken würde, nicht oder nur eingeschränkt möglich ist. Damit diese Interessenvertretungen jedoch ein tatsächliches Gegengewicht zur Kapitalseite im Betrieb darstellen, benötigen sie Rückendeckung und die Legitimation der Beschäftigten. Gepaart ist die Arbeit der betrieblichen Interessenvertretung stets mit einer starken Gewerkschaft. Gewerkschaft und Betriebs-/Personalrat bzw. JAV arbeiten eng zusammen, denn die Arbeit der Gewerkschaft, durch beispielsweise Tarifverhandlungen, hat Auswirkungen auf den Betrieb und andersherum. Dadurch können inner- und überbetrieblich Verbesserungen erreicht werden. Dadurch, das meint nicht nur durch das Bestehen von Betriebs-/Personalräten, Jugend- und Auszubildendenvertretungen oder einer Gewerkschaft. Dadurch, das meint durch gelebte Solidarität! „Mir geht es doch gut an meiner Arbeitsstelle. Was die anderen machen, ist mir egal.“ Ja? Ist das wirklich so?
Carolin Hack ist gelernte Gesundheits- und Krankenpflegerin und aktive Gewerkschafterin in der ver.di Jugend.