Antisemitismus
Was ist Antisemitismus?
Antisemitismus ist ein altes Phänomen, das nach wie vor aktuell ist. Auf Schulhöfen ist „Du Jude“ immer noch ein Schimpfwort. Laut einer Studie der EU-Grundrechteagentur dachte seit 2013 jede*r dritte Jüdin und Jude ans Auswandern. Über die Hälfte der Jüdinnen und Juden in Deutschland ist in den vergangenen fünf Jahren beleidigt, angestarrt oder beschimpft worden. Beinahe 90 Prozent sehen den Antisemitismus im Internet steigen. Wo kommt der Antisemitismus her und warum hält er sich so lange?
Eine uralte Geschichte
Die Ursprünge des Antisemitismus liegen dabei früh in der Geschichte vergraben. Bereits zu Zeiten des frühen Christentums entsteht der Antijudaismus, der im vereinfachten Schema von Gut und Böse das Judentum mit dem Bösen gleichsetzt. Es stand fortan für alles, wovor sich gefürchtet wurde und was verabscheut wurde: Sünde, Ketzerei, Verderben, Heilsverlust. Hinzu kamen weitere Mythen, die bis heute ihre Wirkung entfalten – so zum Beispiel die Ritualmordlegende, nach der Jüdinnen und Juden Kinder entführten und ihr Blut für Rituale verwendeten. Oder der Vorwurf des Brunnenvergiftens auf dem Höhepunkt der Pest. Ebenso das Stereotyp des Wuchers, das Jüdinnen und Juden vorwirft, durch die Zinsen auf verliehenes Geld andere zu bestehlen. Damals wie heute sagen diese Mythen rein gar nichts über die Jüdinnen und Juden aus, aber umso mehr über die Antijudaist*innen: Die Legenden mussten herhalten, um hinter unerklärbaren und abstrakten Phänomenen (Kindermorde und Suizide, die Pest oder die Funktionsmechanismen der Ökonomie) einen konkreten Schuldigen zu finden. Dabei geht es nicht nur um vermeintlich unerklärbare Phänomene, sondern stets auch um das, was sich eigentlich selbst gewünscht wird, beispielweise: Die Lust an der Sünde oder der Traum, ohne Schufterei Geld verdienen zu können.
Schon damals blieb es nicht einfach bei den Mythen, sondern das Ressentiment forderte seine Taten ein. Es kam zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung, die tausende Opfer forderten, Jüdinnen und Juden wurden rechtlich schlechter gestellt und aus vielen Lebens- und Arbeitsbereichen ausgeschlossen. Mit dem Aufkommen der Moderne veränderte sich der Antijudaismus zum modernen Antisemitismus. Die Bürger*innenrechte von Jüdinnen und Juden verbesserten sich zwar wie bei allen anderen Bürger*innen auch, aber das Zeitalter der Aufklärung zeigte die Unvollständigkeit seiner Versprechen schon bald. Denn das antisemitische Ressentiment erwies sich als anpassungsfähig. Die alten Mythen entwickelten sich zu einer umfassenden Weltanschauung und -erklärung weiter. Die Mythen sollten also nicht mehr nur einzelne unverstandene Phänomene erklären, sondern der Anspruch erweiterte sich. Mit scheinbar wissenschaftlichen Argumenten gefüttert, diente der Antisemitismus so als Erklärung der gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne. In Deutschland breitete er sich in alle Bereiche der Gesellschaft aus und konnte zum Fundament der völkisch-nationalsozialistischen Ideologie werden.
Auf dem Weg zur Shoa
Zum einen richtete sich dieser völkische Nationalismus und damit der Antisemitismus gegen die Entwicklungen der Moderne. Jüdinnen und Juden galten geradezu als Personifizierung der Moderne. Dies erinnert an die bereits bekannten Mythen: Jüdinnen und Juden wurden verantwortlich gemacht für die abstrakten, nicht leicht verstehbaren Seiten des modernen Kapitalismus. Anstatt die Ausbeutung im Kapitalismus zu kritisieren und die Entwicklungen zu analysieren, machten Antisemit*innen die Finanzsphäre für alles verantwortlich. Diese sei in der Hand der Jüdinnen und Juden, die im Hintergrund das Weltgeschehen leiten würden. Massenhaft sprangen auch Arbeiter*innen auf diese bereits tief verwurzelte Propaganda des Wuchers an. Der Antisemitismus des Nationalsozialismus behauptete, dass nur die „schaffende Industriearbeit“ ehrliche Arbeit sei und Jüdinnen und Juden hinter einem „schmarotzenden-unproduktiven Kapital“ stehen. Auch hier kamen wieder verborgene Sehnsüchte zum Vorschein, z. B. nach Reichtum ohne Schufterei oder Glück ohne Leid.
Zum anderen nutzte der moderne Antisemitismus die Errungenschaften der Moderne, um gegen sie vorzugehen. So versuchten auch Wissenschaftler*innen und Pädagog*innen, die antisemitischen Behauptungen zu legitimieren. Unterstützt durch die moderne Massenkommunikation fand der Wahnsinn seine schnelle Verbreitung. Die gerade erkämpfte Demokratie wurde genutzt, um sich selbst Schritt für Schritt abzuschaffen. Schon 1930 wurde die antisemitische Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) mit 18,3 Prozent zweitstärkste Partei. 1933 waren es bereits 44 Prozent aller Stimmen, die gemeinsam mit den Stimmen aller Parteien außer SPD und KPD ausreichten, um das Ermächtigungsgesetz in Kraft zu setzen. Durch zahlreiche Gesetze folgte eine beispielslose Entrechtung und Verfolgung der Jüdinnen und Juden. Während der Novemberpogrome 1938 wurden zehntausende Jüdinnen und Juden in Konzentrationslagern inhaftiert und über 1.400 Synagogen zerstört.
Mit dem deutschen Angriffskrieg auf Polen 1939 weitete sich die Verfolgung auf die europäischen Jüdinnen und Juden aus, wobei es bereits in den ersten Monaten zu Massakern und Deportationen in Konzentrationslager kam. Letztere wurden später systematisch auf alle eroberten Länder ausgeweitet. 1942 wurde auf der Wannseekonferenz schließlich die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 900.000 Jüdinnen und Juden ermordet. Unter größter logistischer Anstrengung und mit industriellen Methoden wurde bei laufendem Krieg der Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden durchgeführt. Bis zur Niederschlagung des deutschen Faschismus 1945 wurden in der Shoa über 6.000.000 Jüdinnen und Juden systematisch ermordet.
Gegenwärtiger Antisemitismus
Auch nach der Shoa verschwand der Antisemitismus nicht aus der Welt. Er zeigte sich erneut anpassungsfähig. Nach dem Schrecken der beinahe vollendeten Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden verbot sich ein positiver Bezug auf die Vergangenheit von selbst. Offen geäußerter Antisemitismus wird tabuisiert. Aber statt Scham, Mitleid oder Reue über die massenhafte Beteiligung an der Vernichtung zeigen sich seitdem verschiedene Formen des Antisemitismus:
Sekundärer Antisemitismus: Dieser zeigt sich im Leugnen oder Relativieren der Shoa in der Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit oder in der Behauptung, Jüdinnen und Juden würden heute Vorteile aus der Shoa ziehen. Auch die Behauptung, die Jüdinnen und Juden würden heute in Israel auf gleicher Weise mit der palästinensischen Bevölkerung umgehen, zählt dazu. Hinter all dem steht der Versuch, in der Gegenwart nachträglich eine Entlastung für die eigene Verwobenheit mit der Vergangenheit zu finden.
Israelbezogener Antisemitismus: Eine der prominentesten Formen des Antisemitismus findet sich heutzutage im israelbezogenen Antisemitismus und Antizionismus. Zionismus nennt sich der Traum nach einem selbstbestimmten Staat, der den Schutz des jüdischen Lebens selbst in die Hand nimmt. Der Traum wurde erst nach der Shoa mit der Staatsgründung Israels 1948 Wirklichkeit. Seitdem ist der jüdische Staat ein Schutzraum vor Verfolgung für alle Jüdinnen und Juden, seitdem wird er aber auch in seiner Existenz angegriffen. Dabei wird sich klassischer antisemitischer Ressentiments bedient, die stets nichts mit der Wahrheit zu tun haben, aber viel über die Antisemit*innen sagen. So wird der Mythos der Brunnenvergifter ausgepackt und behauptet, Israel stehle den Palästinenser*innen das Wasser. Oder das Bild der jüdischen Strippenzieher*innen, wenn Israel verantwortlich gemacht wird für Krieg und Frieden in der Region. Auf abstrakterer Ebene zeigt sich die Feindschaft gegen die Entwicklungen der modernen pluralistischen Staaten, wenn Jüdinnen und Juden das Recht auf einen Staat abgesprochen wird, da sie keine klassische Nation seien. Auch der Antizionismus blieb nicht bei Worten, sondern griff stets zur Gewalt und zeigt, wie sehr er mit dem klassischen Antisemitismus einher geht. Die Gewalt richtete sich oft gegen jüdische Einrichtungen (bis hin zu versuchten Bombenanschlägen auf jüdische Gemeindehäuser) und es kommt bis heute im Namen des Antizionismus zu Übergriffen auf Jüdinnen und Juden.
Islamistischer Antisemitismus: Auch in der Frühgeschichte des Islams lassen sich judenfeindliche Aussagen finden, die weitere Schmähschriften und Massaker gegen Jüdinnen und Juden auf den Plan riefen. Mit dem Einsetzen der Kolonialisierung kamen die Mythen des europäischen Antisemitismus hinzu. Es verwundert nicht, dass Islamist*innen sogar die Kooperation mit dem deutschen nationalsozialistischen Regime suchten und die Hetze im arabischen Raum verbreiteten. Heute zählt Antisemitismus zum festen Bestandteil der islamistischen Ideologie und findet sich in der Programmatik entsprechender Gruppen.
Gegen jeden Antisemitismus!
Der gegenwärtige Antisemitismus findet sich quer durch alle politischen Lager, in allen Altersgruppen und in jedem Bildungsstatus. Obwohl in den gegenwärtigen Ausdrucksformen nicht immer Jüdinnen und Juden direkt angesprochen werden, trifft es sie am Ende doch. Es liegt an uns allen, dem Antisemitismus ein Ende zu setzen. Das fängt damit an, die eigene Weltanschauung zu hinterfragen und nicht auf billige, antisemitische Ressentiments reinzufallen, die nichts erklären, aber brandgefährlich sind. Zudem sind wir alle gefragt, den hier lebenden Jüdinnen und Juden solidarisch zur Seite zu stehen und den jüdischen Staat Israel zu verteidigen.
Matthias Schröder ist Politikwissenschaftler und seit vielen Jahren in der Gewerkschaftsjugend aktiv. Er beschäftigt sich mit Antisemitismuskritik und setzt sich für die deutsch-israelischen Beziehungen ein.