Rassismus
Wie äußert er sich in unserer Gesellschaft?
Ein Berufsabschluss sollte einem den Schritt in den Arbeitsmarkt gemäß den erworbenen Qualifikationen gewährleisten – Migrant*innen, die in ein anderes Land gehen, erleben aber oft das Gegenteil: Ihre Abschlüsse werden nicht anerkannt, sie stehen vor der Wahl, ein Studium oder eine Berufsausbildung zu wiederholen oder sich einen Job unterhalb ihrer Qualifikation zu suchen. Ein niedrigeres Einkommen und weniger Aufstiegschancen bzw. einige Jahre Rückstand gegenüber den einheimischen Kolleg*innen, weniger Anspruch auf Arbeitslosengeld und eine niedrigere Rente eingeschlossen. Dies erscheint normal, wird oft mit mangelnden Sprachkenntnissen irgendwie gerechtfertigt, und schließlich gibt es genug nicht eingewanderte Akademiker*innen, die Taxi fahren. Tatsächlich findet durch die Nichtanerkennung von Abschlüssen aber eine systematische Dequalifizierung von Menschen aus dem Ausland und deren Platzierung auf niederen sozialen Positionen statt, die im Durchschnitt eine generelle Schlechterstellung gegenüber der einheimischen Bevölkerung zur Folge haben. Ist das Rassismus?
Leichter ist Rassismus in Stellenanzeigen wie „Putzhilfe mit sehr guten Deutschkenntnissen“ zu erkennen oder in der verbreiteten Praxis, Menschen mit ausländischem Namen trotz gleicher Qualifikationen und Erfahrungen wie Personen mit deutschem Namen gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch einzuladen. Offensichtlich wird Rassismus auch, wenn beispielsweise antirassistische Videoclips folgende Szene zeigen: Die Chefin sitzt am Schreibtisch, es klopft an der Tür, herein kommt ein Schwarzer. Die Chefin: „Ach, Sie kommen wegen der Heizung?“ Antwort: „Nein, zum Vorstellungsgespräch.“ Hinter ihm kommt ein Weißer im Blaumann an die Tür. Rassismus ist dabei nicht nur die tiefsitzende Vorstellung, die White Collar Jobs würden von Menschen aus dem globalen Norden gemacht, und die Blue Collar Jobs von Menschen aus dem globalen Süden, in Deutschland zum Beispiel auch von den Nachkommen der ehemaligen Gast- oder Vertragsarbeiter*innen in der BRD und der DDR.
Zum Rassismus als gesellschaftliche Struktur gehört auch die materielle Wirklichkeit, dass die ökonomische und soziale Position in enger Beziehung zur Herkunft steht, in Ländern wie Deutschland quasi vererbt wird. Statistisch gesehen schaffen nur wenige Individuen den Aufstieg. Prozentual gesehen sind es wenige Kinder von Akademiker*innen, die nicht aufs Gymnasium gehen, und gleichzeitig wenige Arbeiter*innenkinder, die eine Empfehlung für das Gymnasium bekommen.
Der Begriff Rassismus und seine Geschichte
Der Begriff Rassismus wird in Deutschland immer noch wenig gebraucht und schon gar nicht zur Beschreibung sozialer Phänomene. Er scheint für physische Gewalt, Hate Speech und sie motivierende Ideologien reserviert, findet aber auch dafür wenig Anwendung. Stattdessen hört und liest man in den Medien meist von „Fremdenfeindlichkeit“ oder auch von „Ausländerfeindlichkeit“, wenn über Gewalt oder abweisende bis hasserfüllte Einstellungen gegen Menschen berichtet wird, die wegen äußerlicher Merkmale als Fremde oder Ausländer*innen betrachtet werden. Dabei sind beide Begriffe zu kritisieren: Es geht nicht um den Pass, wenn eine Person of Colour angepöbelt wird, und ein*e Ausländer*in aus Dänemark wird selten als solche wahrgenommen und angegriffen. Es sind bestimmte, historisch bedingte äußerliche Merkmale, die dazu führen, Menschen als deutsch oder als ausländisch wahrzunehmen. Der Begriff der*des Fremden wiederum ist bereits ideologisch aufgeladen und geht von der Vorstellung aus, die Angehörigen einer Nation seien eine vorpolitische Gemeinschaft, in der alle einander sehr ähnlich seien und irgendwie in Beziehung zueinander stehen würden. Dabei ist einem die Sitznachbarin im Bus, die man eventuell wegen ihres Aussehens für eine Nicht-Deutsche hält, genauso fremd wie die Sitznachbarin, die man für eine Deutsche hält.
Der Ausdruck Rassismus ist des Weiteren reserviert für Gesellschaftssysteme wie den Kolonialismus, das Südafrika der Apartheid und die „Rassentrennung“/Segregation in den USA bis in die 1960er Jahre. Dabei ist ein ungleicher Status der Menschen entlang von Herkunft und Abstammung gesetzlich fixiert und wird an körperlichen Merkmalen wie vor allem der Hautfarbe und Gesichtszüge festgemacht. Im Zuge des Kolonialismus, der transatlantischen Sklaverei und der Verwissenschaftlichung der Weltsicht wurde in Europa die Vorstellung entwickelt, dass die Bevölkerungen unterschiedlicher Regionen nicht nur verschieden aussähen, sondern voneinander abgetrennte „Rassen“ bilden würden, die mit grundlegend unterschiedlichen Eigenschaften und Fähigkeiten ausgestattet und somit zur Herrschaft oder zur Unterordnung, d. h. zum (unqualifizierten) Arbeiten bestimmt seien. Unterschiedliche Formen von Sklaverei und Leibeigenschaft prägen die Geschichte, Menschen waren und sind teilweise immer noch Privateigentum anderer Menschen, in der Verfügungsgewalt eines Staates oder in ähnlichen Verhältnissen. Als mit der Aufklärung aber der Anspruch auf Gleichheit und Freiheit durchgesetzt wurde, musste die reale Ungleichheit neu begründet werden. „Rasse“ wird im Deutschen oft in Anführungszeichen geschrieben, um daran zu erinnern, dass es sich um keine wissenschaftliche Kategorie handelt.
Im Nationalsozialismus wurde das Verständnis von „Rasse“ stärker auf innere, nicht unbedingt sichtbare Unterscheidungsmerkmale bezogen, „das Blut“ sollte durch Vererbung die Menschengruppen unterscheiden. Das Ziel dabei war, basierend auf dem stark verbreiteten Antisemitismus, das Judentum als „Gegenrasse“ zu den „Ariern“ und „nordischen Völkern“ zu definieren und schließlich zu vernichten. Trotz dieser biologischen Sichtweise ist generell im Antisemitismus – anders als im Rassismus – neben der Abwertung auch eine Überhöhung angelegt. Den Jüdinnen und Juden wird unterstellt, das Weltgeschehen zu lenken, um anderen Gemeinschaften zu schaden. Menschen aus Osteuropa wurden von den Nationalsozialist*innen, die dort „Lebensraum“ erobern wollten, als „slawische Untermenschen“ und „Arbeitsvölker“ bestimmt, ebenfalls auf Grundlage lange bestehender Unterscheidungen nach körperlichen und kulturellen Merkmalen. Noch heute ist es bei Menschen aus Osteuropa der Akzent, der zu ihrer Markierung als „Ausländer“ oder „Fremde“ herangezogen wird. Sint*izze und Rom*nja wurden ebenfalls rassistisch aus dem „Volkskörper“ herausdefiniert und ermordet. Schwarze wurden nicht systematisch verfolgt, aber vielfach wurden ihnen die Lebensgrundlagen entzogen.
Rassismus heute
Die Kolonialzeit und der Nationalsozialismus liegen in der Vergangenheit und so wird Rassismus gedanklich ebenfalls in die Vergangenheit versetzt. Wo offen rassistisches Denken zu Tage tritt, wird es vielfach als unaufgeklärte, altbackene Einstellung verstanden und auf „Ewiggestrige“ und Randgruppen der Bevölkerung ausgelagert. Eine weitere Entwicklung kommt hinzu, die Verschiebung von der Natur zur Kultur als zentrales Unterscheidungsmerkmal. Weil Rassismus durch die Verbrechen des Nationalsozialismus, die Entkolonisierung in Asien und Afrika und die Schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA delegitimiert wurde, wurde zunehmend zur Unterscheidung nach kulturellem Hintergrund gegriffen. Es entstand der oft so genannte „Rassismus ohne Rassen“ oder „Kulturrassismus“: Nun werden kulturelle Prägungen, Eigenarten, Erscheinungen, darunter Werteorientierungen, Weltsichten, Religionen als statisch verstanden und quasi als Programm, das das Verhalten und das Denken der Menschen bestimmt. Letztendlich erscheint nun die Kultur eines Menschen und seines „Kulturkreises“ als genauso unveränderbar bzw. durch Menschen nicht zu gestalten, wie vorher die Natur den Menschen bestimmen sollte. Weiterhin werden Kollektiven meist – aber nicht nur – negative Eigenschaften zugeschrieben, die sie vom eigenen Kollektiv unterscheiden sollen. Im Vordergrund des Kulturrassismus steht heute vielfach der Rassismus gegen (vermeintliche) Muslim*innen.
Rassismus ist, so zeigt sich, viel mehr als eine Sache von Einstellungen, die leicht geändert werden können. Er besteht in neuen Formen fort und bildet ein über die Jahrhunderte gewachsenes System von Ungleichheit, das sich zwar verändert, aber sich dabei beständig neu erschafft. Rassistisches Denken legitimiert Ungleichheit und gibt den Menschen eine Identität, indem sie sich – kollektiv – von anderen unterscheiden und vor allem wissen, wer und wie sie nicht sind: nicht wie „die Anderen“. Der Arbeitsmarkt und das gegliederte deutsche Schulwesen sind zentrale Apparate des Rassismus: Sie produzieren ohnehin Ungleichheit, und viele rassistische Logiken führen zu einer zusätzlich wirksamen rassistischen Unterscheidung.
Solidarität von nicht Betroffenen kann zunächst dort ansetzen, wo die Einzelnen handlungsfähig sind: Es geht um eine Sensibilisierung für Rassismus, das Erkennen und Wahrnehmen rassistischer Wirklichkeiten und der eigenen Involvierung darin. Diese sieht je nach eigener und familiärer Geschichte sehr unterschiedlich aus und erfordert von den Menschen je nach ihrer Positionierung im rassistischen Ganzen unterschiedliche Strategien, dem individuell aber auch gemeinsam etwas entgegenzusetzen.
Rosa Fava ist Lehrerin und promovierte Erziehungswissenschaftlerin, arbeitet in der historisch-politischen Bildung und in unterschiedlichen Projekten und Arbeitsstellen zu Fragen von Rassismus, Migration und Antisemitismus. Zur Zeit leitet sie die ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit der Amadeu Antonio Stiftung.